Schulkarrieren auf dem absteigenden Ast

19. Oktober 2023

Tausende Kinder und Jugendliche müssen jedes Jahr wegen schlechter Noten ihre Schule verlassen. Mit verschiedenen Ansätzen versuchen einzelne Städte und Länder diese Zahlen zu senken. Dazu fanden wir den nachfolgenden Artikel.

„Ich war sehr traurig. Ich wollte ja nicht wechseln.“ So lautet der Titel eines Buches aus dem Jahr 2008 von Anke Barbara Liegmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Duisburg-Essen, der auf den Punkt bringt, worum es geht: Mehr als 100 000 Schülerinnen und Schüler verließen damals zwischen der 5. und 10. Klasse ihre Schule, und für fast zwei Drittel von ihnen war dieser Wechsel ein erzwungener Abstieg, zum Beispiel vom Gymnasium auf die Realschule. Diese Zahlen präsentierte 2012 die Bochumer Professorin Gabriele Bellenberg in einer Untersuchung für die Bertelsmann Stiftung.

Kompakt

Jedes Jahr erleben Tausende von Kindern und Jugendlichen den Verlust ihrer gewohnten Lernumgebung – wegen schlechter Noten dürfen sie zum Beispiel nicht am Gymnasium bleiben, sondern werden an eine niedrigere Schulform überwiesen. Gegen diese Abschulung und die damit oft verbundene fehlende Lernmotivation können nach Ansicht von Experten verschiedene Ansätze helfen: Die Beschränkung auf wenige Schulformen ab der 5. Klasse, das Angebot aller Abschlüsse an allen Schulformen, der gemeinsame Unterricht bis zur 10. Klasse bzw. der spätere Übergang zu weiterführenden Schulen, um falsche Entscheidungen zu minimieren.

In Berlin gab es nach einer Studie von Bellenberg aus dem Jahr 2020 in den Klassen 7 bis 10 am Ende des Schuljahres 63 Aufsteiger und 985 Absteiger. In Nordrhein-Westfalen müssen laut Bellenberg nach der 6. Klasse gut vier Prozent der SchülerInnen das Gymnasium verlassen, bei der Gesamtschule sind es 0,6 Prozent, bei der Realschule gibt es sechs Prozent Absteiger. „Wenn viele Schüler in das System drängen, wird selektiert. Ich gehe davon aus, dass heute vielfach die Abschulungszahlen steigen“, sagt Bellenberg mit Blick auf NRW. Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen bedeutet dies häufig weniger Lernmotivation und geringeres Selbstvertrauen.

Abschulungszahlen nach wie vor hoch

Was kann man gegen die Abschulung tun? Diese Frage stellten sich kürzlich Mitglieder des Schulausschusses in Hannover, wo rund 350 Mädchen und Jungen im kommenden Schuljahr wegen nicht ausreichender Leistungen eine niedrigere Schulform als bisher besuchen müssen. Bei einer Anhörung von Experten gab es verschiedene Ansätze. „Wir haben in Osnabrück die Hauptschule abgeschafft, weil sie nach der 4. Klasse nur noch selten gewählt wurde. Voll wurden die Hauptschulklassen durch die Zugänge in den Klassen 6 und 7 von der Realschule, die Hauptschulen wurden so zur Restschule mit vielen frustrierten Jugendlichen“, sagt Ute Tromp vom Bildungsbüro Osnabrück. Heute gibt es in Osnabrück ab der 5. Klasse sechs Oberschulen – eine Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen - , zwei Integrierte Gesamtschulen und sieben Gymnasien. „Wir haben in die Oberschulen investiert. Sie haben jetzt ein klares Profil mit einer starken beruflichen Orientierung und werden von den Eltern deutlich häufiger angewählt als früher die Hauptschulen. Fast alle Plätze sind in der 5. Klasse belegt“, sagt Tromp und fügt hinzu: „Es gibt noch Abschulungen, aber deutlich weniger als früher.“ Für sie ist dabei nicht nur die Leistungsfähigkeit der Schüler entscheidend: „Es kommt auch auf die Haltung der Lehrkräfte und den Einsatz der Binnendifferenzierung in heterogenen Gruppen an.“

Auch in Göttingen hat man die Hauptschulen sowie die Realschulen aufgelöst, heute gibt es in der Universitätsstadt bei den weiterführenden Schulen ab Klasse 5 nur noch fünf Gymnasien und vier IGS. „Durch dieses zweigliedrige Schulsystem hat die Zahl der Schulformwechsler deutlich abgenommen“, sagt Tom Wedrins, bis Anfang des Jahres IGS-Schulleiter in Göttingen. Er vermutet: „Bei so einem Zwei-Säulen-Modell ist den Beteiligten eher klar, dass man auch bei Schwierigkeiten seine Schülerinnen und Schüler behält.“ Schulwechsel gibt es dennoch. Vor allem in den Klassen 7, 8 und 9 mangelt es an Kapazitäten, was auch mit dem Zuzug von Jugendlichen zum Beispiel aus der Ukraine zu tun hat. Wegen dieser fehlenden Plätze wurden Auffangklassen an Integrierten Gesamtschulen eingerichtet. „Das ist in meinen Augen aber keine Lösung. Nötig ist die Gründung neuer Schulen. Dafür braucht man aber eine breite gesellschaftliche Unterstützung“, sagt Wedrins.

Führen weniger Schulwechsel zu besseres Abschlüssen?

Till-Sebastian Idel, Professor für Erziehungswissenschaft an der Uni Oldenburg, weist darauf hin, dass im Bundesland Bremen Gymnasien alle aufgenommenen Schülerinnen und Schüler behalten müssen – es sei denn, dass die Eltern einer Abschulung zustimmen. Bremen setzt ab der 5. Klasse auf ein zweistufiges Schulsystem mit Gymnasien und Oberschulen, wobei letztere auch zum Abitur führen. „Es ist für die Akzeptanz einer Schulform bei den Eltern sehr wichtig, dass alle Abschlüsse angeboten werden. So können falsche Entscheidungen für die Schullaufbahn der Kinder vermieden werden“, sagt Idel.

Er leitet die wissenschaftliche Begleituntersuchung des Primus-Schulversuchs, der seit 2014 in Nordrhein-Westfalen läuft. An fünf Standorten (Minden, Münster, Schalksmühle, Titz und Viersen) wurden je eine Grund- und eine Hauptschule miteinander zu einer Integrierten Gesamtschule fusioniert – die Kinder können von der Einschulung bis zur 10. Klasse die IGS besuchen und müssen nicht wie üblich nach der 4. Klasse eine Entscheidung für eine weiterführende Schule treffen. Diese Möglichkeit besteht weiterhin, wird aber selten genutzt. Auch sonst gibt es kaum Schulwechsel. „Die Primus-Schulen schließen in ihrer jeweiligen Region überdurchschnittlich gut ab, Schülerinnen und Schüler erreichen höhere Abschlüsse als nach der vierten Klasse prognostiziert“, sagt Idel. Er begrüßt, dass vier der Primus-Schulen vom Land NRW als Regelschulen anerkannt werden sollen und sie dann dauerhaft ihr Modell anbieten können.

Das in seinen Augen grundsätzliche Problem im deutschen Schulsystem ist damit allerdings nicht gelöst – der übliche Übergang zu weiterführenden Schulen nach der vierten Klasse in fast allen Bundesländern. „Nur in den deutschsprachigen Ländern müssen Eltern so früh eine Entscheidung über den weiteren Schulweg treffen, die oft ausschlaggebend für spätere Probleme mit der Abschulung ist.“ Bezeichnend ist, dass dieses Problem nach wie vor ignoriert wird. Nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes werden bundesweit keine aktuellen Zahlen erhoben, wie häufig Schülerinnen und Schüler wegen ihrer Leistungen auf eine andere Schulform wechseln müssen.

Mit freundlicher Genehmigung des Ernst Klett Verlag GmbH

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